Diese Woche freuen wir uns sehr, euch unsere neue Kuratorin Dorothee Marx (@Dori_Kiel) vorstellen zu dürfen! Dorothee ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für North American Studies am Englischen Seminar der Universität Kiel. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht sie die Lebenserzählungen von traumatisierten, behinderten oder chronisch kranken Figuren in Romanen und Comics. Ihre Forschungsinteressen beinhalten außerdem self-tracking, die Figur des Zombies, die Darstellung von Mutterschaft, African American literature, sowie die Rolle von Behinderung im Hochschulkontext. Sie ist die erste Gewinnerin des Martin Schüwer-Publikationspreises für Herausragende Comicforschung (2019) für ihren Aufsatz „The ‚Affected Scholar‘: Reading Raina Telgemeier’s Ghosts as a Disability Scholar and Cystic Fibrosis Patient.“ 2020 erhielt sie den Sabin Award for Comics Scholarship der International Graphic Novels and Comics Conference. Sie ist Co-Sprecherin des Diversity Roundtables der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, Redaktionsmitglied bei CLOSURE. Kieler e-Journal für Comicforschung und arbeitet gerade zusammen mit Gesine Wegner an einer Sonderausgabe des Journal of Literary and Cultural Disability Studies zum Thema „Cripping Graphic Medicine.”
Wie bist du in der Wissenschaft gelandet?
Ich habe schon im Bachelorstudium (Anglistik/Amerikanistik und Skandinavistik) gemerkt, dass mein Wissensdurst was die englischsprachige Literatur- und Kulturwissenschaft angeht, quasi unstillbar ist. Ich wollte gern immer noch mehr wissen und neues lernen und habe mich im nBachelor oft in die literaturwissenschaftlichen Masterseminare gesetzt. Ich hatte das Glück, dass ich schon während meines Studiums als Hilfskraft sowohl in der Anglistik als auch in der Kulturwissenschaft arbeiten konnte und so einen guten Einblick in den Wissenschaftsbetrieb bekam. Nach meinem Bachelor entschied ich mich, in Kiel zu bleiben, weil dort ein Ein-Fach-Master „English and American Literatures, Cultures, and Media“ angeboten wird, in dem ich mich voll auf die Literaturwissenschaft konzentrieren konnte. Spätestens während des Masterstudiums stand für mich dann fest, dass ich auf jeden Fall für eine Promotion an der Uni bleiben wollte und ich hatte großes Glück, dass mit Ende meines Studium in Kiel in der Amerikanistik, meinem Wunschfach, eine Promotionsstelle frei wurde und ich diese auch bekam.
Warum hast du dich für dein aktuelles Feld entschieden, und/oder was hält dich dort?
In den Disability Studies, meinem Hauptschwerpunkt in der Amerikanistik, bin ich durch einen Umweg gelandet. Ich habe in meiner Masterarbeit über die amerikanische Kultur nach den Anschlägen vom 11. September geschrieben und mir das Verständnis von Heimat und Heimatland angesehen – und zwar anhand der Zombieserie The Walking Dead. Ich fand es extrem spannend, wie die Ideologie hinter den Terroranschlägen immer wieder mit einem ansteckenden Virus verglichen wurde (was ich dann auf die Popularität des Zombies in den 2000ern bezogen habe). G. W. Bush sagte damals zum Beispiel in einer Rede „our immunity has been shattered.“ Ich habe also angefangen, mich in das Thema Krankheit und Viren in der amerikanischen Kultur einzulesen und bin dann darauf gestoßen, dass es, besonders in der anglophonen Forschung, ein riesiges Forschungsfeld zum Thema disability gibt. Das war mir hier in Deutschland während meines Studiums nicht begegnet. Zu dieser Zeit habe ich auch angefangen, mich mit Comics zu beschäftigen – vor allem durch das Engagement meiner beiden Kolleg*innen Cord-Christian Casper und Victoria Allen, die mich überzeugt haben, in der Redaktion von CLOSURE Kieler E-Journal für Comicforschung mitzuarbeiten. Deshalb sind jetzt auch Comics Teil meiner Forschung.
Mittlerweile ist es auch sehr wichtig für mich, mein persönliches Erfahrungswissen in meine Forschung einzubringen, da ich selbst mit einer Behinderung lebe. Es hat aber erst die Beschäftigung mit den Disability Studies gebraucht, um zu verstehen, dass ich auch als selbst Betroffene zu diesem Thema forschen darf. Hier bestärkt mich die positive Haltung der Disability Studies und die engagierte gegenseitige Unterstützung behinderter Forscher*innen untereinander nicht nur für meine weitere Forschung, sondern auch für mein Leben außerhalb der Uni.
Erzähle uns etwas über deine Arbeit!
Ich bin ja gelernte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und jetzt wie gesagt in der Amerikanistik tätig. Mein Forschungsschwerpunkt sind die Disability Studies und in diesem Feld schreibe ich auch meine Doktorarbeit zur Darstellung von Zeit in den Lebensgeschichten von chronisch kranken und behinderten Figuren in der nordamerikanischen Gegenwartsliteratur.
Die Disability Studies beschäftigen sich mit der Art und Weise, wie Behinderung gesellschaftlich wahrgenommen wird und wie diese Vorstellungen zustande kommen und untersucht dann zum Beispiel auch, wie diese Vorstellungen sich in die Kultur einschreiben, weitergegeben und reproduziert werden. Um das besser nachzuvollziehen, beschäftige ich mich mit ganz vielen verschiedenen kulturellen Produkten. Ich forsche sowohl zu Romanen als auch zu Autobiographien, aber auch zu (autobiographischen) Comics, Filmen oder YouTube-Videos. Für ein Kapitel zu Selbstquantifizierung habe ich mir mal Zyklusapps angesehen. Ich glaube diese Auswahl zeigt ganz gut, in wie vielen verschiedenen Bereichen unsere Vorstellungen von Behinderung und Normalität eine Rolle spielen.
Die Disability Studies betrachten Behinderung nicht als ein individuelles medizinisches Problem, also als einen „Defekt“ der geheilt oder überwunden werden muss, sondern verstehen Behinderung als eine soziale Identität. Die Gesellschaft betrachtet es als „Normalzustand,“ keine Behinderung zu haben und sieht deshalb Behinderung als eine negative besetzte Abweichung von der Norm an. Menschen mit Behinderungen werden also gegenüber nichtbehinderten Menschen abgewertet. Das nennt man Ableismus. Ableismus bedeutet auch, dass behinderte Menschen im Alltag immer wieder auf Barrieren stoßen – etwa in der Architektur, durch fehlende Aufzüge und barrierefreie Toiletten, fehlende Blindenleitsysteme usw. – aber auch in den Köpfen, durch Vorurteile und Diskriminierung. Wir schreiben behinderten Menschen oft bestimmte, meistens negative Eigenschaften zu, betrachten sie mit Vorurteilen oder haben stereotype Vorstellungen von Behinderung. Dies äußert sich dann zum Beispiel darin, dass behinderten Menschen unangenehme Fragen gestellt werden, etwa „Warum sitzt du im Rollstuhl?“ oder „Kannst du Sex haben?“ oder ungefragt Tipps gegeben werden, wie die Person die Behinderung überwinden können soll („Hast du schon mal Yoga/eine bestimmte Ernährung probiert?“). Auch glauben viele Menschen, dass behinderte Menschen grundsätzlich nicht arbeiten können oder im Pflegeheim leben. Das merkt man zum Beispiel auch daran, wie die sogenannten „vulnerablen Gruppen“ in der Covidpandemie in der Politik und den Medien dargestellt werden – nämlich als meistens ältere Menschen im Pflegeheim. Jüngere Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen, die studieren, einen Beruf ausüben oder eine Familie haben, kommen da gar nicht vor. Durch die Pandemie habe ich mich auch stärker mit dem Thema Eugenik beschäftigt und gemerkt, wie aktuell die Vorstellung ist, dass behindertes Leben weniger lebens- und schützenswert ist.
Motivation: warum sollte sich die Öffentlichkeit für deine Forschung/Arbeit interessieren?
Mein Forschungsfeld hört sich zwar sehr speziell an, aber tatsächlich betrifft die Vorstellung davon, was wir unter Behinderung verstehen und wie wir behinderte Menschen bewerten – und, ganz wichtig, was wir im Umkehrschluss als Normalität verstehen – also unsere gesamte Gesellschaft. Ich habe die Pandemie schon erwähnt, wo es um die Frage vom Schutz vulnerabler Gruppen geht, zwischendurch auch um die Frage von Triage, aber immer mehr auch um die Prävention von Schäden durch Long Covid – all das sind Fragen, wo es eigentlich darum geht, wie wir gesellschaftlich mit Behinderung und Erkrankung umgehen. (Im Moment alles andere als wertschätzend). Aber auch ganz viele ethische Fragestellungen, z.B. was wir unter „Lebensqualität“ verstehen, das Thema Abtreibung, Präimplantationsdiagnostik/ Pränataldiagnostik, Sterbehilfe – alle diesen Themen hängen mit unseren Vorstellungen von Behinderung zusammen. Meine Forschung zeigt, wie diese Vorstellungen in Medien zirkulieren, also zum Beispiel in Filmen, Büchern, Comics oder auf Social Media. Es ergibt Sinn, sich damit auseinander zu setzen, wie zum Beispiel Filme wie Forrest Gump (1994), Million Dollar Baby (2004), Ziemlich Beste Freunde (2011) oder Die Entdeckung der Unendlichkeit (2014) Behinderung darstellen. Wenn ein Film wie Ein Ganzes Halbes Jahr (2016) eine Geschichte erzählt, in der ein vom Hals abwärts gelähmter Mann für Sterbehilfe in die Schweiz fährt, vorher aber noch seine junge Pflegerin zu einem neuen Leben inspiriert, ist das keine romantische Feel-Good-Story, sondern ein ableistischer Inspirationsporno, der letztlich aussagt, dass ein Leben mit Behinderung so schrecklich und so wenig lebenswert ist, dass es besser ist, tot zu sein. Aber zumindest hat der Tod der behinderten Figur positive Folgen für die nichtbehinderte Figur, die nicht nur sein Geld erbt, sondern auch endlich ihr eignes Trauma überwindet. 0 von 10 Sternen. Das ist zwar scheinbar „nur“ ein Film, aber wenn wir dann noch mal zurück an die Pandemie und bestimmte Aussagen denken, dass Menschen mit Behinderungen, die AN Covid sterben ja sowieso keine gute Lebensqualität hatten, was impliziert, dass deren Tod ja nicht so schlimm ist (und dass man jetzt wirklich keinen Bock mehr hat sich wegen den paar Leuten wieder einzuschränken, die sollen doch bitte zuhause bleiben), wird hoffentlich deutlich, dass die Darstellung von Behinderung in Medien einen sehr großen Einfluss auf unsere gesellschaftlichen Vorstellungen hat. Diese Vorstellungen bleiben ja auch nicht abstrakt, sondern werden in konkrete politische Maßnahmen umgesetzt (Maskenpflicht im Krankenhaus, aber nicht im Supermarkt). Zusammengefasst: Behinderung ist ein Thema, das auch nichtbehinderte Menschen betrifft und das in den Medien tatsächlich sehr viel häufiger vorkommt, als man vielleicht beim ersten Nachdenken glaubt.
Hast du irgendwelche interessanten externen/zusätzlichen Aufgaben/Tätigkeiten?
Ich bin seit 2 Jahren zusammen mit einer Kollegin Diversity and Equality Counselor am Englischen Seminar. Wir beraten Studierende wenn es um Fragen der Diskriminierung geht, aber zusätzlich bin ich noch bis Ende des Jahres gewählte Co-Sprecherin des Diversity Roundtable der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, wo ich mich zusammen mit meinen Kolleg*innen auch für mehr Bewusstsein für Diversität und verschiedene Formen von Benachteiligung einsetze. Im Mai haben wir ein Symposium mit dem Titel „Moving Towards Collective Action: Activism and Academia“ in Kiel organisiert, wo wir uns ganz gezielt für eine möglichst große Barrierearmut eingesetzt haben – das war unglaublich bereichernd. Mittlerweile hat mein Engagement für mangelnde Barrierefreiheit an Universitäten auch Eingang in meine Forschung gefunden und ich beschäftige mich auch mit der Situation von behinderten Lehrenden und Studierenden.
Irgendwelche interessanten Hobbies, von denen du uns erzählen möchtest?
Ich habe während meines Studiums ehrenamtlich als Sanitäterin beim Roten Kreuz gearbeitet. Mittlerweile schaffe ich das körperlich nicht mehr, aber ab und zu zieht es mich für die realistische Unfalldarstellung zurück ins „Blaulichtmilieu.“ Ich schminke dann mich und andere Verletztendarsteller*innen mit viel Kunstblut für Übungsszenarien, damit Feuerwehr und Rettungsdienst oder auch die Polizei für den Ernstfall üben können. Letztes Jahr hat mich die Feuerwehr mehrmals aus kaputten Autos geschnitten, aus einem „brennenden“ Haus und Anfang des Jahres aus einer Baugrube gerettet. Ich habe wahnsinnigen Spaß daran und es ist ja auch noch für einen guten Zweck. Im Büro ist es zwar auch spannend, aber meistens etwas weniger aufregend. Während der Pandemie habe ich auch mit dem Backen angefangen und bin mittlerweile eine recht gute Tortenbäckerin.
Wie sieht dein idealer freier Tag aus (Forscher*innen sind ja auch nur Menschen)? Am liebsten verbringe ich einen freien Tag am Stand. Ich liebe es, dass ich an der Ostsee wohne und arbeite und ich kann problemlos den ganzen Tag im Sand in der Sonne liegen -- und natürlich dabei lesen. Dann auch am liebsten etwas, was nicht für die Arbeit relevant ist. Postapokalyptische Szenarien haben es mir sehr angetan, da hängt mir noch die Masterarbeit nach. Ich hoffe, dass ich im Urlaub Stephen King’s The Stand lesen kann. Zwischendurch paddle ich gern mit meinem SUP den Strand entlang, oder kühle mich im Wasser ab. Und ein Fischbrötchen darf an dem Tag auch nicht fehlen 😊
Bitte begrüßt Dorothee ganz herzlich bei Real Scientists DE!