Saturday, April 22, 2017

Meinungsbildung in einer komplexen Welt - ein Essay von Anne Scheel

Wir von Real Scientists DE haben einige Wissenschaftler nach ihrer Meinung über die Rolle der Forschung in der Gesellschaft gefragt. Hier ist der Beitrag von Anne Scheel (@annemscheel), die unseren Account bereits für eine Woche als Kuratorin geleitet hat:


Meinungsbildung in einer komplexen Welt
 
"BILD Dir Deine Meinung!" Ein Spruch mit einer steilen Karriere. Und mit interessantem Inhalt: Einerseits fordert er zur Meinungsbildung auf, einem Prozess also, indem idealerweise verschiedene Informationsquellen berücksichtigt und gewichtet werden. Andererseits vermittelt er die Botschaft, das Endprodukt dieser Meinungsbildung (die Meinung also) könne direkt aus der BILD-Zeitung übernommen werden -- einer Zeitung, die regelmäßig wegen einseitiger, irreführender oder schlicht falscher Berichterstattung in der Kritik steht. Die Werbung verspricht also eine Arbeitserleichterung: Meinung in verzehrfertiger Form für nur 0,90 €, kein zusätzliches Nachdenken und kein anstrengender Meinungsvergleich nötig.

Wir machen uns leicht lustig beim Gedanken, dass Menschen tatsächlich unreflektiert Inhalte der BILD-Zeitung übernehmen könnten. Aber: was ist mit dem unreflektierten Übernehmen von Inhalten der Süddeutschen Zeitung? Der Tagesschau? Aus einem wissenschaftlichen Fachmagazin? Aus einer Vorlesung im Studium? Vom Hausarzt? Natürlich sind diese Quellen nicht einfach miteinander gleichzusetzen (oder auch nur vergleichbar). Aber es ist nicht schwer, ein Beispiel für eine Situation zu finden, in der uns mal eine einzige Quelle für den Abschluss der Meinungsbildung genügte. Darüber möchte ich heute sprechen: wie wir zu unserem Wissen und zu unseren Meinungen gelangen.

Wir machen einen Exkurs in die USA Mitte des letzten Jahrhunderts. William Perry, Entwicklungspsychologe in Harvard, erforschte in den 1950er und 60ern den Wissenserwerb junger Harvard-Studenten. Die Studenten wurden in den vier Jahren ihres Grundstudiums in regelmäßigen Abständen zu ihren Überzeugungen über den Zugang zu Wissen befragt. Perry beobachtete, dass verschiedene Kohorten von Studenten immer wieder einen ähnlichen Entwicklungsverlauf in ihren Ansichten zeigten.

Erstsemester berichteten meist ein dualistisches Bild von Wissen, Wahrheit und Moral: Es gibt absolute Wahrheit; richtig und falsch, gut und böse. Und der Professor weiß, was wahr ist. Oder - eine schon etwas weiter entwickelte Ansicht - er liegt auch mal falsch, aber es gibt jemand anderes, der die Wahrheit kennt. Auf dieser Stufe wird Wissen einfach von Autoritäten übernommen.
Wenn Perrys Studenten ihre Obrigkeitshörigkeit überwunden hatten, schlug diese Ansicht in ihr Gegenteil um: Alles ist relativ. Die Ansicht des Professors ist nur eine von vielen. Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, und jede Meinung ist gleich viel wert. Diese Multiplizität bedeutet, dass objektive Entscheidungen letztlich gar nicht möglich sind.
Gegen Ende ihres Grundstudiums schließlich zeigten die Studenten eine Integration dieser extremen Ansichten: Zwar gibt es verschiedene subjektive Meinungen, aber wir können uns innerhalb eines Systems auf objektive Kriterien einigen und unterschiedliche Positionen daran messen und beurteilen. Damit sind manche Meinungen gültiger als andere. Wissen und Moral haben immer noch eine gewisse Relativität, aber wir können Maßstäbe entwickeln und anlegen, um uns in dieser Relativität zurechtzufinden und sinnvolle Entscheidungen zu treffen, die nicht völlig subjektiv sind.


Tab. 1 Perrys Schema. Tabelle übersetzt von https://en.wikipedia.org/wiki/William_G._Perry

Auf Basis dieser drei Phasen - Dualismus, Multiplizität, kontextabhängiger Relativismus - entwickelte Perry ein neunstufiges Modell, das als "Perrys Schema" bekannt ist (Tab. 1).
Perry betonte in seinen Arbeiten, dass dieser Entwicklungszyklus als wiederkehrendes Element unseres Erkenntnisgewinns anzusehen sei. Seiner Ansicht nach bewegen wir uns zeitlebens immer wieder durch diese Phasen und können uns in verschiedenen Wissensbereichen auch gleichzeitig auf unterschiedlichen Stufen befinden.

Den Übergang von der ersten in die zweite Phase bezeichnete Perry auch als die "Vertreibung aus dem Paradies". Es liegt etwas Beruhigendes in der Ansicht, dass absolute Wahrheit und absolute Moral existieren und es eine Person gibt, von der man sie erfahren kann. Die Einsicht, dass die Welt weit komplizierter ist, kann große Verunsicherung auslösen. War es nicht viel gemütlicher im schwarz-weißen Dualismus? Wie soll ich mich jetzt zurechtfinden? Das Herausarbeiten eigener Standards und Werte, die aus der "alles ist relativ"-Sichtweise schließlich zur letzten Phase von Perrys Schema führen, ist harte Arbeit. Und sie ist nie endgültig abgeschlossen.

Zurück zur Meinungsbildung durch deutsche Tageszeitungen. Der Aufruhr, den im vergangenen Jahr die Entdeckung von "fake news" auslöste, hat mich sehr an die Vertreibung aus dem Paradies erinnert. Wie bitte, wir können nicht mehr glauben, was in der Zeitung steht? Wie soll man da noch unterscheiden können? Kann man eigentlich noch irgendetwas glauben? Mancherorts war die Verunsicherung so groß, dass man erklärte, man habe "die Nase voll von Experten". Der perfekte Übergang zum Multiplizismus: Wenn ich mich nicht mehr auf die Quelle verlassen kann, der ich bisher blind vertraut habe, glaube ich jetzt niemandem mehr. Alle Quellen sind gleich unzuverlässig. Ich halte mich nur noch an mich selbst.

Als Wissenschaftlerin zähle ich vielleicht zu einem gewissen Grad als "Expertin" (der Teil von mir, der im Forschungsalltag die meiste Zeit das Gefühl hat, gar nichts zu kapieren, wehrt sich vehement gegen dieses Label, während der Teil, der schon ganze zwei Zeitungsinterviews gegeben hat, ihm beruhigend zuflüstert, dass Wissen relativ ist). Deshalb hat mich der Eindruck, dass die Öffentlichkeit -- manche Teile der Öffentlichkeit zu bestimmten Zeitpunkten -- Experten ihre Wertschätzung entzieht, sehr beunruhigt. Denn natürlich weiß ich, dass Experten die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen haben und nicht automatisch Bescheid wissen (siehe Forschungsalltag-Anne), aber wir haben doch auch keine bessere Wissensquelle als die Menschen, die sich mit einem Thema am besten auskennen.

Aber als ich Perrys Schema kennenlernte, bekam ich eine etwas andere Perspektive. Im Rahmen dieses Modells sieht die Abkehr von Experten auf einmal nicht mehr wie ein Rückschritt aus, sondern wie ein Fortschritt: Wir haben uns von Phase 1 nach Phase 2 weiterentwickelt! Wenn wir jetzt am Ball bleiben, könnten wir es in Phase 3 schaffen: Dann würde die Meinung von Experten nicht als absolut und endgültig angesehen, aber etwa als höherwertig als die von manchem Kolumnisten. Vielleicht haben wir das ja heimlich, still und leise schon geschafft?
Die Antwort darauf ist natürlich gleichzeitig ja und nein. Es gibt nicht "die Öffentlichkeit", und selbst wenn Perrys Schema eine in allen Details zutreffende Beschreibung der Entwicklung wäre, würde man in verschiedenen Gruppen und in Bezug auf verschiedene Themen ein großes Chaos unterschiedlicher Stufen des Modells vorfinden -- vielleicht Stufe 1 beim Thema Krebstherapien, Stufe 2 in der Griechenland-Krise, Stufe 3 im Diät-Dschungel?

Herauszufinden, wo genau wir stehen, ist nicht der Punkt. Mein Anliegen ist die Entwicklung an sich: Wir sind ständig in Bewegung. Die Welt ist verflucht kompliziert und Meinungsbildung ist eine ziemlich anstrengende Angelegenheit. Die eine Autorität, die uns sagen kann, wo es lang geht, existiert nicht. Aber das ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken, denn es gibt trotzdem bessere und schlechtere Informationen. Diese Unterscheidung kann sehr schwierig und in manchen Gebieten unmöglich sein -- da brauchen wir wieder die Experten: Nicht nur, um uns Fakten zu liefern, sondern auch um uns beizubringen, wie wir bessere von schlechteren Informationen unterscheiden können.

Wissenschaft ist im Grunde nichts anderes als dieser Prozess: Um in der Klimaforschung oder der Quantenphysik oder der Psychotherapie zu einem Konsens zu gelangen, müssen wir die Arbeit vieler Wissenschaftler zusammentragen und nach ihrer Aussagekraft gewichten. Und nichts davon steht für die Ewigkeit; neue Informationen führen zu neuen Bewertungen. Auch Wissenschaftler befinden sich manchmal in Stufe 1 von Perrys Schema! Manchmal tun wir Dinge nur deshalb, weil die Wissenschaftler vor uns sie auch so gemacht haben. Manchmal ist das, was der Doktorvater sagt, zwangsläufig wahr. Manchmal führen neue Informationen dazu, dass unser Weltbild zusammenbricht und wir uns für einen Moment nicht mehr zurecht finden in unserem Fachgebiet, weil alles relativ erscheint. Aber immer muss unser Ziel sein, in all der Unsicherheit mit dem bestmöglichen Leitfaden, den wir gerade zur Hand haben, Entscheidungen zu treffen.

Wissenschaftler haben nicht immer Recht, aber Wissenschaft ist die unendliche Reise zum Zusammenfügen der besten verfügbaren Informationen. Als Forscher, als Laien, als Zeitungsleser, als Studenten, als Patienten, als Fernsehzuschauer können wir die Herausforderung annehmen, uns unsere Meinung zu bilden. Das erfordert Energie, die Auseinandersetzung mit verschiedenen Quellen, Neugier, und die Erkenntnis, dass man niemals fertig wird mit diesem Unterfangen. Aber vielleicht ist das auch eine Erleichterung: Es ist okay, verwirrt zu sein. Solange wir die Bildung in "Meinungsbildung" nie aufgeben.

 

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