Diese Woche freuen wir uns sehr, euch unsere neue Kuratorin Jennifer S. Henke (@jenniferhenkeHB) vorstellen zu dürfen! Jennifer ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin im Bereich Anglistik/Amerikanistik. Sie hat an Universitäten in Bremen, Hamburg-Harburg, Halle, Guelph, Kanada und Freiburg geforscht und gelehrt. Zurzeit vertritt sie ihre zweite Professur, aktuell mit Schwerpunkt anglophone Gender Studies an der Universität Greifswald.
Wie bist du in der Wissenschaft gelandet?In der Wissenschaft bin ich über einige Umwege gelandet. Ich habe einen nicht-akademischen Hintergrund, auf den ich sehr stolz bin: Ich bin die erste in der Familie, die Hochschulreife erlangt hat, dazu noch auf dem zweiten Bildungsweg, sowie die erste und einzige mit Studienabschluss und Promotion. Ich bin also das, was man eine #FirstGen (first generation) oder auch Bildungsaufsteigerin nennen würde, was jedoch nicht heißt, dass meine Familie nicht belesen ist, ganz im Gegenteil sogar. Sie gehörte aber nie zur Bildungsschicht; dies kann für Nachkommen solcher Milieus einige Hürden mit sich bringen wie etwa fehlende Netzwerke, mangelnde Kenntnisse des Bildungssystems, keine sonstige Unterstützung usw. In der anglophonen Literatur- und Kulturwissenschaft bin ich gelandet, da ich nicht nur zweitsprachig aufgewachsen bin (englisch/deutsch), sondern mich schon immer für Geschichten, Medien und die britische Kultur interessierte. Dabei haben mich stets auch feministische und genderbezogene Themen fasziniert – von der Suffragetten-Bewegung in Großbritannien über feministische Hollywood-Filme und Romane bis hin zu Shakespeare und Gender. Diese Themen waren es auch, die meine Leidenschaft für das Forschen weckten und warum ich nach dem Abschluss (damals noch Magister) in Anglistik/Amerikanistik und Germanistik unbedingt weitermachen wollte. Heute vertrete ich schon zum zweiten Mal eine Professur, aktuell für Anglophone Gender Studies, und kann manchmal kaum glauben wie weit ich vor allem als Frau und #FirstGen gekommen bin, auch, wenn die weiteren Aussichten mehr als unsicher sind. Natürlich hat mein aktueller Status auch sehr, sehr viel mit Glück und Privilegien zu tun, die andere marginalisierte Forschende nicht haben, dessen bin ich mir überaus bewusst. Gleichzeitig bin ich stolz auf meinen bisherigen Weg, der alles andere als einfach war. Ich hoffe, dass ich auch zukünftig meinen Beruf weiter ausüben kann, denn das Prekariat an deutschen Hochschulen ist kein Geheimnis: Auch ich gehöre zu den weit über 90% befristeten Forschenden in diesem System, die aufgrund des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (#WissZeitVG) und dem eklatanten Mangel an festen Stellen mit über 40 Jahren vor dem Exodus stehen. Bis das Beil endgültig fällt oder ich im Wissenschaftslotto gewinne, forsche und lehre ich mit Herzblut weiter.
Warum hast du dich für dein aktuelles Feld entschieden, und/oder was hält dich dort?
An meinem Fach fasziniert mich besonders, dass es dabei hilft, sich selbst als historisches Subjekt besser begreifen zu können. Anders ausgedrückt: Meine Disziplin untersucht ‚Texte‘ – und das kann alles von Romanen über Filme bis hin zu Illustrationen sein – nicht losgelöst von ihrem historischen Kontext. Texte existieren nie in einem Vakuum – sie sind stets eingebettet in historische und sozio-kulturelle Diskurse. Sie ‚sprechen‘ zudem immer anders zum jeweiligen Publikum. Zum Beispiel gibt es in der anglophonen Geschichte Phasen, über die wir noch nicht genug wissen, da einfach zu wenige historische Quellen existieren. Überliefert werden jedoch oftmals Geschichten, die uns mehr über eine jeweilige Kultur verraten können. Die Literatur- und Kulturwissenschaft fragt jedoch nicht nur nach der Art des Textes (dem ‚Was‘), sondern vor allem auch nach den Bedeutungsmechanismen (dem ‚Wie‘): Wie funktioniert ein Narrativ? Welche intertextuellen Referenzen liegen vor? Wie hängen Form, Inhalt und kultureller Kontext zusammen? Welche gesellschaftliche Funktion hat ein Text in der jeweiligen Epoche? Was kann er uns über Machtmechanismen verraten? Welche Theorien und Methoden können auf einen Text angewendet werden mit welchem Erkenntnisgewinn? Gleichzeitig können uns Texte aus gut erforschten Epochen immer wieder andere, neue Perspektiven eröffnen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob man ein vermeintlich objektives Geschichtsbuch zur Hand nimmt, um sich Wissen über eine Kultur oder ein historisches Ereignis anzueignen, oder einen Roman liest, der der Leserin eine andere, subjektivere Perspektive eröffnet. Oft sind Bedeutungen zudem kodiert wie etwa in fantastischen Erzählungen, die auf der Metaebene höchst politisch sein können: Es ist unsere Aufgabe als Forschende, diese Codes zu entschlüsseln und immer wieder neu zu deuten. Letztlich geht es in der Literatur- und Kulturwissenschaft vor allem um unterschiedliche Perspektiven und nicht um ‚die eine‘ Wahrheit, sondern um sich stets verändernde Blickwinkel. Es kann daher für Studienanfänger:innen und Fachfremde manchmal frustrierend sein, wenn es auf eine Frage keine definitive Antwort gibt, aber genau darum geht es oftmals, um die Herausarbeitung der Komplexität eines Themas. Ich verstehe mein Fach dabei als eine Art Prisma, die das Licht bricht und immer wieder neue Farben erzeugt, je nach Art und Bewegung des Prismas. Das bedeutet nicht, dass es keine Fakten gibt, ganz im Gegenteil sogar. Nur wie diese Fakten interpretiert werden und welche Funktionen sie erfüllen – das ist der Gegenstand unserer Forschung und auch das Faszinierende an meinem Fach. Das ist das, was mich persönlich in der Wissenschaft hält – das immer Neue und Andere, der ständige Perspektivwechsel.
Erzähle uns etwas über deine Arbeit!
Ich vertrete zurzeit meine zweite Professur im Bereich der englischsprachigen Literatur und Kultur, dieses Mal mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den Gender Studies, was mir ermöglicht, mich in meinem bevorzugten Forschungsfeld ‚austoben‘ zu können. Während der Pandemie und den vielen Universitätswechseln im Rahmen von Vertretungen und Lehraufträgen hatte bisher die Einarbeitung in immer neue Infrastrukturen sowie in die (für nahezu alle Kolleg:innen) neue online Lehre Vorrang. Aktuell arbeite ich am Abschluss meines zweiten großen Forschungsprojekts zur Geschichte der Geburtsmedizin während der Aufklärung in Großbritannien. Mich interessiert dabei vor allem die Frage, wie Darstellungen des reproduktiven Körpers sowohl in medizinischer als auch literarischer und visueller Literatur mit tatsächlichen materiellen Praktiken der Geburtshilfe verwoben sind. Mein kulturhistorisch ausgerichtetes Forschungsprojekt ist für mich äußerst sinnstiftend, da es dazu beiträgt, aktuelle Probleme rund um die Geburtshilfe besser zu verstehen. Literarische und kulturelle Artefakte – und dazu gehören auch medizinische Handbücher und Illustrationen – fungieren dabei nicht nur als historische Quellen, sondern auch als eine Art Brille, die ich mir aufsetze, um zu neuen Perspektiven zu gelangen. Mein Alltag besteht während der Vorlesungszeit überwiegend aus Administration und Lehre: Aktuell führe ich Seminare zu Cyborgs und Gender, aber auch zu irischer und kanadischer Literatur und Kultur durch. Zum Forschen komme ich in der Regel in der vorlesungsfreien Zeit. Dann bestehen meine Tage aus lesen, lesen, lesen, denken, schreiben, lesen. Am schönsten ist es für mich, wenn der ‚flow‘ eintritt und ich beim Lesen = Forschen mein Zeitgefühl verliere, komplett in ein Thema eintauche und mehrere ‚aha, ach, so ist das also!‘-Momente erlebe.
Warum sollte sich die Öffentlichkeit für deine Forschung/Arbeit interessieren?
In erster Linie hat mein Fach der Literatur- und Kulturwissenschaft folgende gesellschaftliche Funktionen: Es fördert durch das Lesen fachwissenschaftlicher und fiktionaler Texte nicht nur die generelle Lese-, sondern vor allem auch die Medienkompetenz, die in unserer heutigen Zeit unabdingbar geworden ist. In meinem Fach geht es nicht vorrangig um den Erwerb von Sprachkompetenzen – diese sollten idealerweise bereits bei Studienbeginn und Eintritt in die Forschung vorliegen – sondern um das Erlernen und Erproben von kritischem Denken. Dieses ist insbesondere angesichts der aktuell zu verzeichnenden Flut an #Desinformation relevant. In meinem Fach steht nicht nur die Einübung von Argumentationslinien, sondern vor allem auch die Überprüfung von Quellen im Vordergrund: Woher stammt dieser Text/diese Information? Wer spricht, mit welcher Intention? Welche belastbaren Quellen lassen sich für diese Aussage finden? Existieren andere Perspektiven auf ein Thema/eine Fragestellung? Welche Machtmechanismen bestimmen wer, wann, wo, was sagen darf? Welche Faktoren wie etwa gender, class, race, ability, age usw. spielen in einem Diskurs welche Rolle? Diese und andere Themen sind für die Öffentlichkeit und somit Gesellschaft von hoher Relevanz, da sie die Demokratie fördern. Das Motto meiner Lehre lautet zum Beispiel: „feel free to disagree“. Studierende sollen nicht passiv konsumieren, sondern debattieren, Dinge hinterfragen und ihre Argumente mit belastbaren Quellen untermauern. Nicht zuletzt bin ich auch in der Lehramtsausbildung tätig. Es sind die Studierenden von heute, die die Kinder von morgen unterrichten und im Klassenzimmer als Multiplikator:innen fungieren werden.
Hast du irgendwelche interessanten externen/zusätzlichen Aufgaben/Tätigkeiten?
Seit mehreren Jahren erfülle ich zusätzlich Lehraufträge an einer Technischen Universität. Ich bringe dort u.a. angehenden Maschinenbauer:innen und Ingenieur:innen nicht nur die anglophonen Literatur- und Kulturwissenschaften, sondern vor allem auch die Relevanz von Geschlechterfragen näher. Ich musste mich anfangs noch etwas an die sehr heterogene (und manchmal auch skeptische) Studierendenschaft gewöhnen, aber liebe die Herausforderung, ein völlig fachfremdes Publikum für meine Disziplin zu begeistern. Eine Rückmeldung, die ich immer wieder erhalte und die mich sehr freut ist, dass Studierende erstaunt über die unterschiedlichen Perspektiven nicht nur mit Blick auf die vermittelten Themen, sondern vor allem hinsichtlich ihrer Kommilliton:innen sind: „I learnt that there are actually far more perspectives than I had previously thought“. Ziel erreicht.
Ansonsten, sofern es die knappe Zeit ermöglicht, bin ich auch in der Wissenschaftskommunikation tätig. Zum Beispiel habe ich an einer Reihe ‚science goes public‘ teilgenommen und in einer Kneipe Frankenstein und Feminismus vermittelt. Andere Male habe ich als Wissenschaftlerin an der Diskussion von Theaterstücken wie etwa The Vagina Monologues teilgenommen und Informationen zur Kulturgeschichte der Gynäkologie eingebracht. Ansonsten bin ich auf Twitter anzutreffen und tweete verstärkt zu den Hashtags #IchBinHanna, #IchBinReyhan sowie zu Gender-Themen.
Irgendwelche interessanten Hobbies, von denen du uns erzählen möchtest?
Ich habe das große Glück, u.a. mit drei Hunden leben zu dürfen, wenn ich nicht gerade pendele – einer amerikanischen Bulldogge und zwei Chinesischen Schopfhunden, Marke Powder Puff. Mit Ihnen verbringe ich den größten Teil meiner kleinen Freizeit.
Wie sieht dein idealer freier Tag aus (Forscher sind ja auch nur Menschen)?
Ausschlafen (Eule)! Dann Gassi, ein gutes Frühstück, Badewanne, Filme (lesen tue ich beruflich schon genug), Freund:innen, Familie.
Bitte begrüßt Jennifer ganz herzlich bei Real Scientists DE!
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