Wir freuen uns ganz besonders, euch heute Anne Scheel (@annemscheel) als neue Kuratorin vorstellen zu dürfen! Anne ist Doktorandin an der LMU München im Bereich Psychologie.
In ihrer Arbeit beschäftigt sich Anne nicht nur mit Forschung, sondern auch mit Forschung über Forschung: nachdem sich die Psychologie derzeit in der sogenannten Replikationskrise befindet, will Anne herausfinden, was man dagegen tun kann, um beste wissenschaftliche Standards zu erfüllen und möglichst zuverlässige Resultate zu erzielen.
Hier ist Anne in ihren eigenen Worten:
Ich war ein ganz schlimmes “Und warum?”-Kind und irgendwie bin ich einfach nie aus dieser Phase herausgewachsen. Das erste Berufsziel, an das ich mich erinnern kann, war "Literaturwissenschaftlerin" - mit 8 Jahren. Zu meiner Verteidigung ist zu sagen, dass in unserem Deutschlesebuch ein kleiner Comic-Literaturwissenschaftler auftauchte und uns erklärt hat, dass Rechtschreibung sich verändert und man früher mal “Thier” statt “Tier” geschrieben hat. Aus irgendeinem Grund fand ich das unendlich faszinierend. Danach wollte ich aber relativ lange Astronaut werden. Dann Astronom (als eine gewisse Erkenntnis in Bezug auf die Erfolgschancen einsetzte). Und dann Biophysiker. Und irgendwann war klar, dass das Thema gar nicht so wichtig ist, solange ich nur immer weiter “Warum?” fragen darf. Wobei inzwischen auch “Wie?” und “Häh?” dazugekommen sind.
Ich stecke gerade mitten im Umbruch: Die letzten zweieinhalb Jahre habe ich an der LMU München in der Entwicklungspsychologie gearbeitet und soziales Lernen und Handlungsverständnis von Babies und Kindergartenkindern erforscht. Diesen Bereich verlasse ich jetzt, um mich meinem neuen Promotionsthema zu widmen: Die Verbesserung von Forschungspraktiken und Methoden in der Psychologie. Sehr "meta" also!
Zur Psychologie kam ich so: Nach meiner Biophysik-Phase in der Schule gab es einen längeren Flirt mit Molekularbiologie, nach dem ich schließlich irgendwie durch meine Faszination für das menschliche Gehirn bei der Psychologie gelandet bin.
Als überzeugte Naturwissenschaftlerin stand ich der Psychologie anfangs etwas skeptisch gegenüber. Ist das nicht eine halbe Geisteswissenschaft? Ist das nicht alles “weich”, was die machen? Kann man da überhaupt harte Fakten herausfinden? Keiner dieser Vorbehalte hat das erste Semester überlebt. Ich bin inzwischen der Meinung, dass das Fach in gewisser Weise noch “härter” ist als Biologie: Denn die wenigsten Dinge, die wir Psychologen messen wollen, lassen sich wiegen oder auszählen. Wir müssen deswegen Instrumente entwickeln, um all die unsichtbaren Variablen, die wir untersuchen -- Intelligenz, Gewissenhaftigkeit, Empathie, Überraschung… -- dingfest zu machen. Und das ist verflucht schwer!
Noch schwerer ist das, wenn die Versuchsperson, die man vor sich hat, keinen Fragebogen ausfüllen und mir nicht sagen kann, was ihr gerade durch den Kopf geht. Babies zum Bespiel haben diese unpraktische Eigenart. Das hat mich gereizt: Wie können wir herausfinden, was Kinder wissen oder verstehen, bevor sie es uns sagen können? Da muss man ganz schön einfallsreich sein. Diese Herausforderung hat mich schließlich zur Entwicklungspsychologie gebracht.
In meinem Masterstudium an der Uni Glasgow hatten wir ein Seminar, in dem es um die Replikationskrise in der Psychologie ging. Ich hatte davon vorher noch nie etwas gehört: 2011 führten zwei neue Artikel zu der Einsicht, dass unsere bisherigen Standards für die Durchführung und den Bericht von psychologischen Studien zu niedrig waren - so niedrig, dass sie vermutlich zu einer beängstigend hohen Anzahl falsch positiver Befunde geführt hatten. Diesen Verdacht haben seit dem einige groß angelegte Replikationsprojekte bestätigt: Zum Beispiel wurden 2015 die Ergebnisse eines Projekts veröffentlicht, in dem 100 Studien aus dem Jahr 2008 (publiziert in den höchstangesehenen Psychologiefachzeitschriften) repliziert, d.h. von anderen Forschern so genau wie möglich wiederholt wurden. Nur 36 dieser 100 Replikationen kamen zum selben Ergebnis wie die Originalstudie!
Viele psychologische Befunde, die wir für gesichert gehalten hatten, sind uns in den letzten Jahren geradezu um die Ohren geflogen. Eine beängstigende Zeit auf der einen Seite, aber auch unheimlich aufregend auf der anderen - denn jetzt geht es darum, unsere Methoden zu verbessern und wieder auf den richtigen Weg zu kommen.
Dieses Thema - wie wir unsere Forschung transparenter, reproduzierbarer, nachhaltiger gestalten können; ich fasse es unter dem Begriff "Open Science" zusammen - hat mich seitdem nie mehr losgelassen. Schließlich liegt es all unseren Forschungsbemühungen zugrunde! Trotz großer Fortschritte in den letzten Jahren haben wir noch einen langen Weg vor uns, und ich will in den nächsten Jahren in meiner Promotion untersuchen, wie wir diesen Wandel so effektiv wie möglich gestalten können.
Wie ich gerade schon erzählt habe, ist "meine Arbeit" gerade ein bisschen schwierig zu definieren, weil ich mitten im Umbruch stecke - meine längste Erfahrung bezieht sich auf die Entwicklungspsychologie, aber aktuell beschäftige ich mich schon mit meinem neuen Meta-Thema.
In meiner bisherigen Arbeit habe ich hauptsächlich das soziale Lernen im Säuglings- und Kleinkindalter untersucht: Wie lernen Kinder von anderen? Den ganzen Tag über beobachten unsere Kinder uns dabei, wie wir alles mögliche tun. Und wir wollen ihnen manche Dinge beibringen und andere nicht unbedingt. Berücksichtigen Kinder das in ihrem Lernverhalten? Lesen sie aus unseren Gesten, Blicken und Äußerungen, welchen Dingen sie Aufmerksamkeit schenken sollten? Wenn ja, warum und was genau ist es, das ihre Aufmerksamkeit lenkt? Oder lernen Kinder eher aus Handlungseffekten? Geht es also eher um das, was nach einer Handlung passiert?
Solche und ähnliche Fragen werden in Laborexperimenten erforscht. Zum Beispiel zeigen wir einem Kind ein unbekanntes Spielzeug, an dem man verschiedene Handgriffe durchführen kann. Dann wird dem Kind eine Handlung vorgemacht, die einen Effekt hat, und eine andere Handlung ohne Effekt. Und dann überlassen wir das Spielzeug dem Kind und beobachten, welche der vorgemachten Handlungen es nachmacht. In habe in den letzten Jahren also sehr vielen Kindern gegenüber gesessen und sehr viel Erfahrung im Spielzeugherstellungsgeschäft sammeln dürfen.
Mein neues Open-Science-Projekt geht in eine ganz andere Richtung - meine Untersuchungssubjekte sind jetzt nicht mehr kleine Menschen in Dinosaurierpullis, sondern andere Wissenschaftler und ihre Studien (es ist natürlich nicht auszuschließen, dass manche davon auch Dinosaurierpullis tragen). Dafür werde ich vor allem auf publizierte Artikel und online bereitgestellte Informationen zugreifen und zum Beispiel untersuchen, ob in den letzten Jahren neu entwickelte Standards tatsächlich dazu führen, dass die Qualität von veröffentlichten Studien steigt. Eine große Herausforderung ist dabei natürlich die Frage, wie man diese "Qualität" misst, ohne mehrere Jahrzehnte in die Zukunft zu springen und zu schauen, ob die publizierten Befunde sich wirklich bewährt haben! Aber es gibt verschiedene Indikatoren, die man sich zunutze machen kann, und auch darüber werde ich in meiner Real-Scientists-Woche twittern.
Warum sollte sich die Öffentlichkeit für deine Forschung/Arbeit interessieren?
Für Entwicklungspsychologie: Weil Babys total süß sind, wenn sie nachdenken! Spaß beiseite - Entwicklungspsychologie dreht sich im Kern um sehr existenzielle Fragen: Was macht den Mensch zum Mensch? Welche Fähigkeiten sind angeboren und welche erlernt? Und wenn etwas erlernt ist, WIE wird es gelernt? Diese Forschung kann uns zum einen ein besseres Bild davon geben, wer wir eigentlich sind, aber zum anderen hilft sie auch dabei, Entwicklungsstörungen zu verstehen und zu behandeln (oder gar zu verhindern!), oder herauszufinden, wie wir Kinder am besten fördern können.
Für Open Science: Weil die Öffentlichkeit den allergrößten Teil der durchgeführten Forschung finanziert! Wissenschaft ist für das Volk da. Forschung, die nicht replizierbar ist, ist Steuergeldverschwendung. Deswegen ist es im Interesse aller, dass wir so effizient wie möglich forschen. Und wie das am besten geht, müssen wir immer wieder überprüfen.
Das Thema "verbesserte Forschungspraktiken" treibt mich schon lange um und ich beteilige mich deshalb im großartigen Open-Science-Komitee der LMU (https://osf.io/mgwk8/). Dort besprechen wir neue Entwicklungen auf diesem Gebiet, um dieses Wissen am ganzen Department verbreiten zu können, und überlegen, wie wir unsere Forschungs- und auch Lehrmethoden effektiv verbessern können. Im November war ich zum ersten Mal aktiv an einem Workshop des OSCs ("C" für das englische "committee") beteiligt (also als Mit-Lehrende), und werde dieses Jahr in verschiedenen Kontexten noch ein paar weitere Open-Science-Workshops abhalten.
Außerdem blogge ich seit Neuestem zusammen mit meinen drei großartigen Kollegen Julia Rohrer (@dingding_peng) - jedem @realscientists_DE-Follower natürlich längst ein Begriff -, Ruben Arslan (@_r_c_a) und Malte Elson (@maltoesermalte) auf http://the100.ci!
Die wichtigsten Themen in meiner Freizeit sind Sport und Musik - ob das jetzt interessant ist, weiß ich nicht Ich gehe gerne laufen und liebe meine Rennräder über alles, und früher habe ich sehr lange Hockey gespielt. Ab und an kann man mich außerdem beim Auflegen erwischen (ich lege aber nur die Musik anderer Menschen auf, nicht meine eigene).
Wie sieht dein idealer freier Tag aus?
Zuallererst mal: Ausschlafen! Und zwar SEHR lange, weil ich am Abend vorher vermutlich bis in die Puppen auf war. Dann gibts einen richtig schönen Kaffee, eine Joggingrunde im schönsten Frühlingswetter an der Isar, und nachmittags einen spannenden Vortrag an der Uni mit einer lebendigen Diskussion im Anschluss. Zwischendurch schraube ich ein bisschen an ein paar Datensimulationen herum (ja, ich bin ein Nerd!) und abends gehts zum Tanzen auf eine gute (!) Indieparty.
Bitte heißt Anne ganz herzlich bei Real Scientists DE willkommen!